
Du glaubst gar nicht, wie viele junge und alte Menschen in meine Praxis kommen, um mit mir (heimlich) über ihre Sexualität zu sprechen: von sexuellen Vorlieben, Streit in der Partnerschaft aufgrund unterschiedlicher Erwartungen oder belastendem Drang nach Sexualität bis hin zu sexueller Unlust. Sobald die Tür meines Sprechzimmers zu ist, kann wirklich alles thematisiert werden. Klar, meine Patient/innen fühlen sich sicher, denn bei mir als Arzt mit Schweigepflicht darf nichts den Raum verlassen, wenn meine Patient/innen nicht ausdrücklich zustimmen. Aber warum bedarf es überhaupt »einem diskreten Schutzraum« bei einem Thema, das eigentlich vollkommen natürlich ist?
Bevor wir ans Eingemachte gehen: Sexualität ist etwas komplett Natürliches und vor allem unglaublich vielfältig. Egal ob queer oder hetero – sie ist individuell und verdient es, offen und wertfrei thematisiert zu werden. Was für die/den Eine/n erfüllend ist, kann für jemand anderen komplett unwichtig oder abturnend sein – und das ist absolut okay. Wenn wir über Sexualität sprechen, geht es aber nicht nur um Sex im klassischen Sinne, sondern um Nähe, Intimität, Lust, Identität und vieles mehr. Deine Sexualität – wie auch immer sie aussieht – gehört zu deiner Gesundheit, körperlich wie psychisch. »Sexuell gesund« heißt aber nicht, dass du möglichst oft mit dir selbst oder mit anderen Sex haben musst (außer du möchtest gerne). Es geht eigentlich nur darum, sich wohlzufühlen – mit dem eigenen Körper, der eigenen Identität und den eigenen Bedürfnissen. Und es bedeutet, informiert zu sein, eigene Grenzen zu kennen und die anderer zu respektieren.
Einvernehmliche, selbstbestimmte Sexualität ist also vollkommen natürlich und dennoch gibt es viele Menschen, die sich unter Druck gesetzt fühlen oder Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren. Wenn du schon mal das Gefühl hattest, dass du »nicht normal« bist, weil du zum Beispiel über länger Zeit keine Lust hattest, dann sei beruhigt, denn es geht vielen so. Auf der anderen Seite kann Sexualität auch mit »Performance-Druck« oder dem Gefühl, unbedingt einen Orgasmus erleben zu müssen, einhergehen. Auch hier kann ich dich beruhigen, denn das muss gar nicht das Ziel sein. Soll heißen, wenn du dich einfach mal frei davon machst, »kommen zu müssen«, klappt es meist viel besser mit dem Höhepunkt – und wenn nicht, dann eben nicht und dafür ein anderes Mal.
Unsicherheiten in Bezug auf die eigene Sexualität oder den Körper und seine Funktionen können unterschiedliche Ursachen haben. Um eines ganz kurz klarzustellen: Szenen, wie sie in Pornos dargestellt werden, sind häufig völlig unrealistisch und haben häufig nichts mit einer gesunden, natürlichen Sexualität zu tun. An die Personen mit Penis sei gesagt: Es ist auch völlig normal, dass du mal keine Erektion hast, sehr schnell kommst oder einfach keinen Bock hast. Für Personen mit Vagina gilt das Gleiche für die Lubrikation, also das »Feuchtwerden«. Sie kann nämlich auch völlig unabhängig von deiner Erregung mal mehr und mal weniger ausgeprägt sein. Alles, was dich nicht selbst belastet, ist erstmal total okay. Solltest du jedoch unter irgendetwas leiden, scheue dich nicht, mit deiner Ärztin oder deinem Arzt darüber zu sprechen.
Apropos: Einer der häufigsten Gründe für sexuelle Frustration oder Missverständnisse ist fehlende oder unsichere Kommunikation. Viele Menschen trauen sich nicht, ihre Bedürfnisse oder Grenzen klar zu benennen – häufig aus Angst, zu viel zu wollen oder zu wenig zu bieten. Wenn du aber ganz offen kommunizierst, kann dir das bei deinem Lustempfinden total weiterhelfen. Je mehr Paare oder Einzelpersonen über ihre Sexualität sprechen, desto zufriedener sind sie damit.1 Wenn du dich damit schwertust, hilft es dir vielleicht, dir in Erinnerung zu rufen, dass Sexualität unglaublich individuell ist und deine Wünsche und Bedürfnisse nicht mit Pornografie oder gesellschaftlichen Erwartungen übereinstimmen müssen, um »richtig« oder »normal« zu sein. Du bist du und deine Sexualität gehört nur dir!
Zu einer gesunden Sexualität gehört natürlich auch Safer Sex. Ich habe immer wieder Patient/innen in meiner Praxis, die mir peinlich berührt von ihrem »komischen« Ausfluss oder Warzen im Intimbereich erzählen. Und hey, auch das ist für Ärztinnen und Ärzte völlig normal, aber leider immer noch häufig ein Tabuthema. Wissen über STI und Safer Sex ist aber so unglaublich wichtig, denn Geschlechtskrankheiten können gut behandelt und häufig sogar geheilt werden – wenn sie frühzeitig erkannt werden. Unbehandelt – und das passiert nicht selten, da Geschlechtskrankheiten wie zum Beispiel die Chlamydieninfektion oder eine Infektion mit HPV still und heimlich verlaufen können – können sie jedoch langfristige Folgen verursachen. Deshalb rate ich dir, Safer Sex zu praktizieren und dich regelmäßig testen zu lassen. Viele Unis oder Städte bieten übrigens anonyme, kostenlose Testangebote – z. B. über AStA sowie Jugend- oder Gesundheitsämter – an. Alternativ kannst du dich auch jederzeit an deine Hausärztin oder deinen Hausarzt wenden. Wir sind immer für dich da und dir muss auch nichts peinlich sein, denn für uns ist das Thema total alltäglich. Mehr Informationen zu Safer Sex und STI findest du in diesem Beitrag.
Sexuelle Gesundheit bedeutet, mit sich selbst im Reinen zu sein. Sie ist eng mit deiner mentalen, sozialen und körperlichen Gesundheit verknüpft – und das macht sie zu einem Thema, das (fast) jede/n betrifft. Also: Sprich frei über deine Wünsche und Bedürfnisse,informiere dich und nimm dich selbst und andere ernst. Vergiss nie: Konsens ist Pflicht und deine Sexualität gehört nur dir. Du bist niemandem Rechenschaft schuldig und du musst keine Ansprüche oder Erwartungen erfüllen, sondern darfst sie ganz frei und individuell für dich leben.
Sebastian Alsleben ist Arzt und Gesundheitsexperte und setzt sich leidenschaftlich für eine fundierte und praxisnahe Aufklärung rund um Gesundheit, Ernährung, Sport und mentale Gesundheit ein – so auch auf Social Media oder in seinem Podcast.
1Vgl. Durex (2024): "Global Sex Survey 2024: Sexuelle Zufriedenheit weltweit steigt" unter: www.reckitt.com/de/presse/news/2024/september/sexuelle-zufriedenheit-steigt/ [Stand 08.05.2025]